Mit Mitte 40 zurück auf die Schulbank

Dass muss wohl die Midlife Crisis sein, von der alle reden: Oder was sonst hätte mich wohl dazu bringen können, mit Mitte 40 noch einmal die Schulbank zu drücken? Vielleicht war es der Schreibtisch-Job, der mich einfach nicht mehr zufrieden gestellt hat. Die Freude am Zusammensein mit den eigenen Kindern, die ich gerne auch im Beruf in ähnlicher Form erleben möchte. Oder vielleicht doch die leise Frage im Hinterkopf, ob das schon alles gewesen ist.

Ein bunter Haufen

Was auch immer es gewesen ist, als ich im Sommer des letzten Jahres die Ausbildung zum Erzieher in der Pädagogischen Akademie des Elisabethenstifts in Darmstadt antrat, war ich mir alles andere als sicher, ob ich das Richtige tue. Egal: Augen zu und durch. Beim Blick ins Klassenzimmer stelle ich fest – es ist ein bunt gemischter Haufen. Klar – viele jüngere Schülerinnen und Schüler zwischen 20 und 25 Jahren – aber auch einige Mitdreißiger. Und nachdem es mir dank diverser Kennenlernspiele schließlich gelungen ist, die erste Zurückhaltung etwas abzulegen, merke ich, dass ich noch nicht einmal der Älteste in der Klasse bin.

Orientierung im Abkürzungsdschungel

Die nächsten Tage verbringen wir damit, uns vorsichtig in die Unterrichtsfächer vorzutasten. Das ist gut so, denn allein die Zahl kryptischer Abkürzungen und komplizierter Fachbegriffe scheint für ein Berufsleben auszureichen. HBEP steht zum Beispiel für Hessischer Bildungs- und Erziehungsplan, FSSW für Fachschule für Sozialwesen. Bis heute bin ich nicht in der Lage, die vollständigen Bezeichnungen all meiner Fächer zu nennen. Aber Namen wie „Berufliche Identität und professionelle Perspektiven weiterentwickeln“ sind auch etwas komplizierter als die Fächerbezeichnungen, die wir alle aus der Schule kennen.

Die ersten Fachausdrücke schleifen sich ein. Da wird der Übergang vom Kindergarten in die Schule zur Transition, die gemeinsame Bearbeitung von Themen zur Ko-Konstruktion, die Überprüfung der eigenen Arbeit zur Evaluation. Ich war noch nie ein Fan von Fachjargon, und die Versuchung, einfach mal laut Bingo zu rufen, wenn eine der vielstrapazierten Vokabeln auftaucht, ist groß – aber noch kann ich mich beherrschen.

„Ich spüre förmlich, wie sich neue Synapsen bilden“

Beziehungsaufbau zum Kind, Elternarbeit gut gestalten, Einsatz von Medien in der Kita, die Entwicklungsprozesse der Kinder verstehen: In den folgenden Wochen tauchen wir immer tiefer in die Inhalte ein, die für den Erzieher-Job wichtig sind. Inhalte, die sich von den bisher in meinem Berufsleben benötigten Wissen und Kompetenzen grundlegend unterscheiden – ich spüre förmlich, wie sich neue Synapsen bilden – oder vielleicht stammt mein ständiges Kopfweh auch von den Masken, die wir tagtäglich in der Schule tragen müssen.

Das Unterrichtstempo bleibt moderat. Und das ist gut so, denn trotzdem fühle ich mich jeden Abend wie erschlagen. Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, ist alles andere als einfach. Zumal ich jetzt mehr arbeite, als in meinem früheren Teilzeitjob. Als dann noch die ersten Leistungsnachweise vor der Tür stehen, steigt der Druck weiter. Während die Klausuren insgesamt machbar sind, haben es die Präsentationen und Hausarbeiten in sich: mal geht es um pädagogische Handlungskonzepte, mal um die Funktion von Aggression im Spiel, mal um die Gestaltung eines Raums, in dem die Kinder auf spielerische Weise naturwissenschaftliche Zusammenhänge erlernen können. Praktika und Hospitationen in Kitas oder vergleichbaren Einrichtungen ergänzen die theoretische Ausbildung – dass das gerade in Zeiten von Corona eine ganz spezielle Herausforderung darstellt, muss ich wohl nicht gesondert erwähnen.

Inzwischen haben wir uns auch als Gruppe immer besser eingegroovt: die Stimmung ist gut, der Zusammenhalt wächst – nicht erst seit unserem gemeinsamen Besuch in einem Escape Room. Meine Klassenkameradinnen und -kameraden strahlen eine unfassbare Energie und viel Herzlichkeit aus. Aber: Wir sind auch ein recht undisziplinierter Haufen. Auf den ersten Blick zumindest. Und ja, auf den zweiten Blick auch. Wir sammeln Fehlzeiten wie andere Leute Briefmarken, sind bald Gesprächsthema im Lehrerzimmer.

Von der Vertrauens- zur Kontrollkultur

Was mich zu dem Thema bringt, dass mich in der Ausbildung mit Abstand am meisten nervt. Ich komme aus einem Unternehmen, in dem eine Vertrauenskultur gepflegt wird. Nicht die Dauer der Anwesenheit ist relevant, sondern die Arbeitsergebnisse – das war schon vor Corona so und hat sich im Homeoffice nochmals intensiviert. Im System Schule hingegen herrscht eine Kontrollkultur. Selbst kleinste Abwesenheiten werden peinlichst genau protokolliert, und wer zu viele Fehltage sammelt, bekommt auch mal eine Attestpflicht aufgebrummt. Das führt dazu, dass geschätzt fünf bis zehn Prozent der Zeit für administrative Themen drauf gehen.

Gleichzeitig bekommen wir im Unterricht ein Bild vom Kind als aktiver, selbstbestimmter und kompetenter Mensch vermittelt – ich frage mich, wohin dieser Mensch auf dem Weg zur Schule geblieben ist.

Inzwischen habe ich das erste Halbjahr hinter mir, ein gewisses Maß an Normalität hat sich eingestellt. Bin ich mir heute sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe? Nein – das werde ich wohl erst mit mehr Praxiserfahrung sein. Aber immerhin hat sich die Häufigkeit, mit der ich mir diese Frage stelle, von zweimal am Tag auf einmal in der Woche reduziert – und das ist doch schon mal ein gutes Zeichen.

März 2022